Haltebögen bei Umbruch

Begonnen von amateur, Sonntag, 10. Mai 2020, 23:16

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amateur

Ich versuche, folgende Partitur zu setzen, in der Haltebögen ins Leere laufen. Innerhalb eines Systems geht das auch, wenn auch nicht vollständig (siehe Kopie). Aber wenn ich, wie gefordert, einen Zeilenumbruch setze, wird das Ergebnis sehr skurril.
Gibt es eine einfache Lösung dafür?

\version "2.20.0"

\header {
  title = "Haltebögen ins Leere"
}

\include "deutsch.ly"
\score {

  \relative c' {
    \clef bass
    \time 3/4
    r2 <a, e' c'>4 |
    <ges des' b'>2
    <<
      { a'4 fis }
      \\ { <b,^~ es,~>4 \hideNotes <b es,> }
    >>
    r4 <a e' c'>4 |
    <ges des' b'>2
    <<
      { a'4 fis }
      \\ { <b,^~ es,~>4 \break \hideNotes <b es,> }
    >>
  }
}


ingmar

#1
Ja, ich denke auch, die Bögen am Zeilenende sollten über den Taktstrich gehen. Das ist, was dir nicht gefällt, richtig?

NB: Ich nehme an, die falsche Orthographie der Vorzeichen – etwa es-Moll-Akkord mit fis statt ges – ist beabsichtigt, richtig?

--ingmar

amateur

Das Bild ist die Originalpartitur.
In meiner Umsetzung werden die Haltebögen nach dem Zeilenumbruch völlig unsinnig umgesetzt.
Ich wäre schon zufrieden, wenn sie in der zweiten Zeile gar nicht mehr erscheinen würden.

ingmar

Wenn das das Original ist, lehne ich mich mal aus dem Fenster und sage: Ein Fehler des Stechers. Er hat schlicht dahinter eine Viertelnote vergessen. Die würde ich einfach schreiben, und gut is. Denn ich hätte bei dieser (innerhalb der Stilistik des Werks) sehr außergewöhnlichen Notation auch keine Idee, wie ich es anders spielen wollte...

--ingmar

harm6

#4
Hallo,

ich will mich hier nicht aus dem Fenster lehnen bzgl richtiger oder falscher Notation. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß bei einer Analyse mit Kenntnis des gesamten Stückes Gründe für diese Notation hervortreten.

Insofern beschränke ich mich auf das Satzproblem mit den Bögen.
Zum einen handelt es sich nicht um Haltebögen sondern (in LilyPond-Syntax) um LaissezVibrerTies.
Um Bögen aller Arten zu verändern gibt es \shape (siehe NR). Allerdings sind Tie-artige Bögen in Akkorden in whatever-TieColumns gesammelt. Für die so gesammelten whatever-Ties funktioniert \shape nur mit Klimmzügen.
Besser ist man geht die jeweilige Column selbst an, liest die Ties aus und addiert Versetzungswerte (wie bei \shape) zu den control-points eines jeden Ties.
Ich habe noch einen Hack hinzugefügt der den X-extent eines jeden Ties auf die Werte des Originals beschränken sollte (hoffentlich), sodaß auch der Taktstrich passiert werden kann.
Führt zu:

\version "2.20.0"

shapeLaissezVibrerTieColumn =
#(define-music-function (parser location all-offsets) (list?)

    (define (offset-control-points coords offsets)
      (if (null? offsets)
          coords
          (map coord-translate coords offsets)))
#{
\override LaissezVibrerTieColumn.before-line-breaking =
#(lambda (grob)
  (let* ((ties (ly:grob-array->list (ly:grob-object grob 'ties)))
         (cps-list
           (map
             (lambda (tie) (ly:semi-tie::calc-control-points tie))
             ties))
         (moved-cps-list
           (map
             (lambda (cps offs)(offset-control-points cps offs))
             cps-list
             all-offsets)))
    (for-each
      (lambda (tie cps moved)
        ;; Hack to keep original X-extent, sufficient?
        (ly:grob-set-property! tie 'X-extent
          (cons
            (- (car (list-ref cps 1)) (car (list-ref cps 0)))
            (- (cdr (list-ref cps 3)) (cdr (list-ref cps 0)))))
        (ly:grob-set-property! tie 'control-points moved))
      ties
      cps-list
  moved-cps-list)))
#})

 
\score {

  \relative c' {
    \clef bass
    \time 3/4
    r2 <a, e' c'>4 |
    <ges des' b'>2
    <<
      { a'4 fis }
      \\ {
        \once \shapeLaissezVibrerTieColumn
            #'(
               ((0.4 . -0.15)(1.4 . 0.3)(6.5 . 0.3)(7.5 . -0.15))
               ((0.4 . 0.15)(1.4 . -0.3)(6.5 . -0.3)(7.5 . 0.15))
              )
          <b,^\laissezVibrer es,_\laissezVibrer >4
      }
    >>
    r4 <a e' c'>4 |
    <ges des' b'>2
    <<
      { a'4 \break fis }
      \\ {
        \once \shapeLaissezVibrerTieColumn
            #'(
               ((0 . 0)(1 . 0.3)(2.8 . 0.3)(3.8 . 0))
               ((0 . 0)(1 . -0.3)(2.8 . -0.3)(3.8 . 0))
              )
          <b,^\laissezVibrer es,_\laissezVibrer >4
      }
    >>
  }
}


HTH,
  Harm

EDIT kleine Korrektur: \once hinzugefügt

amateur

Vielen Dank harm,
es passt super.
Ich wollte, ich wüsste, wie man es so hinbekommt.

coach@iKhwaya

Zitat von: ingmar am Montag, 11. Mai 2020, 10:48
Wenn das das Original ist, lehne ich mich mal aus dem Fenster und sage: Ein Fehler des Stechers. Er hat schlicht dahinter eine Viertelnote vergessen. Die würde ich einfach schreiben, und gut is. Denn ich hätte bei dieser (innerhalb der Stilistik des Werks) sehr außergewöhnlichen Notation auch keine Idee, wie ich es anders spielen wollte...

--ingmar

Da kann ich dir nur lauthals zustimmen, Fehler in der Vorlage (Bananenflanke ins AUS!) :o

amateur

Es sind keine Haltebögen. Ich hatte sie auch dafür gehalten. Aber Harm hat schon richtig erkannt, dass es sich um sogenannte ,,Laissez Vibrer"-Bögen handelt. Damit wird angegeben, dass ein Instrument, das von Natur aus nachklingt, nicht abgedämpft werden soll (Siehe: E. Gould, S. 78). Da es sich hier um eine Cello-Stimme handelt und ich Klarinettist bin, kannte ich diesen Bogen nicht.

Malte

#8
Zitat von: amateur am Freitag, 15. Mai 2020, 08:31
Da es sich hier um eine Cello-Stimme handelt [...]
Diese Info ist wichtig. Ich hab als Pianist erstmal gedacht, daß das ein Stück für Klavier solo sei und da hätte ich die Notation sehr ungewöhnlich gefunden und hätte lieber auf die nächste Eins übergebunden. Als Cellist sehe ich aber, daß das so wiederum viel sinniger ist (vorausgesetzt, die Stelle ist pizzicato zu spielen, arco wäre aber sehr merkwürdig bei dem Satz ...).

Edit: Vielleicht wäre noch eine kurze Begründung für meine obigen Behauptungen interessant.

Am Klavier setzt man einen Laissez-vibrer-Bogen eigentlich nur, wenn ein Liegenlassen per Pedal gemeint ist, z. B. weil die Hände woanders beschäftigt sind. Ein Liegenlassen durch Untenhalten der Tasten würde man in definierten Notenlängen notieren. Wenn ein Komponist davon ausgeht, daß ein Pianist <es, b, a> greifen kann, dann wüßte ich nicht, warum man es und b per Pedal halten sollte, um das fis nachzuliefern.

Am Cello dagegen sind dreistimmige Akkorde arco (mit dem Bogen gestrichen) immer mit einer Brechung (oder extremer Lautstärke und gewisser Kürze) verbunden. Das wäre bei so vielen Akkorden hintereinander wahnsinnig unruhig, der Rest des Satzes spricht dagegen. Also pizzicato (gezupft). Dann klingen die Töne aber sowieso nicht lang. Eine Halbe ist schon drin, aber eine Überbindung von zwei Vierteln würde einen langen Ton suggerieren, der so nicht klingt. Die Laissez-vibrer-Bögen zeigen nun aber an, daß die beiden tiefen Töne wenigstens noch ausklingen sollen und auf Zählzeit eins nicht der Finger weggenommen werden soll.

amateur

Es ist ein Stück von Nicolas Bacri und heißt "Night music" für Klarinette und Cello.
Ich habe es abgeschrieben, um es zu transponieren, damit mich mein Lehrer beim Üben mit der Bassklarinette begleiten kann.
Dafür sind die Bögen natürlich überflüssig,. Aber ich hatte halt den Ehrgeiz, das Original so werksgetreu wie möglich zu setzen. Und habe damit ja auch wieder etwas gelernt.
:)

ingmar

#10
+1
Exakt das, was Malte sagt, hatte ich auch gerade schreiben wollen!

Interessant finde ich immer wieder, dass es tatsächlich nicht nur eine Notenschrift gibt – sondern soviele, wie es Instrumente gibt (mal Stile, natürlich), auch wenn die natürlich eng verwandte Dialekte darstellen. Die Angabe des Instruments ist viel wichtiger, um gewisse idiomatische Details der Notation zu verstehen, als man spontan glauben will.

Auch ich hatte eingangs wie selbstverständlich ein Klavier angenommen, daher die Vermutung des Stecherfehlers.

Ach ja, meine Fragen zu den Vorzeichen erklären sich natürlich auch, wenn das eine Bb-Klarinette ist.

EDIT: Fazit: Wenn in Zukunft von einem "Original" die Rede ist, schreien wir immer alle: "Maximalbeispiel!" : - )


Frage: Ist die geschweifte Klammer überhaupt eine gute Idee, um Systeme zwei unterschiedlicher Instrumente zusammenzuhalten?

coach@iKhwaya

Zitat von: harm6 am Montag, 11. Mai 2020, 11:25
Hallo,

ich will mich hier nicht aus dem Fenster lehnen bzgl richtiger oder falscher Notation. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß bei einer Analyse mit Kenntnis des gesamten Stückes Gründe für diese Notation hervortreten.

Insofern beschränke ich mich auf das Satzproblem mit den Bögen.


Ääh ja, OK! Ich kenne die Laissez-Vibrer Notierung auch, aber ANDERS! Wir Gitarristen kennen eine Textauszeichnung über dem System  " let ring - - - - - - - - - - |" oder "sostenuto - - - - - - - - |" bzw. abgekürzt "sost." od. "sosten." mit der entsprechenden Dauer ( sost. - - - - - - - - | )

harm6

ZitatIch kenne die Laissez-Vibrer Notierung auch, aber ANDERS! Wir Gitarristen [...]

Nun, die Schreibweisen, die aufführst sind bekannt, aber die laissez-vibrer-Bögen ebenfalls.
Z.B.

https://www.stretta-music.com/media/images/580/252580_detail-01.jpg


In den letzten beiden Zeilen dieser Seite.

Es gibt jedoch zahlreiche Beispiel für alle möglichen Notationen. "l.v." habe ich auch schon gesehen.
"Lasciare vibrare" in der ersten Zeile oben als Zusatz.
Space-notation gibts auch.
etc etc

Gruß,
  Harm

Malte

Zitat von: ingmar am Freitag, 15. Mai 2020, 09:59
Frage: Ist die geschweifte Klammer überhaupt eine gute Idee, um Systeme zwei unterschiedlicher Instrumente zusammenzuhalten?
Nein, das ist höchst unüblich. Eigentlich faßt man damit nur mehrere Systeme eines Instrumentes zusammen.
Zitat von: Elaine Gould, Hals über KopfDie geschweifte Akkoladenklammer kann auch mehrere Systeme verwandter Instrumente oder Stimmen verbinden, aber diese klassische Darstellungsform verwendet man heute nur noch selten; [...]
Anders als Gould habe ich das aber auch in neueren Ausgaben immer mal wieder gesehen. In deinem Fall jedoch handelt es sich nicht um verwandte Instrumente in einer größeren (Orchester-) Partitur, deshalb wäre eine eckige Klammer (LilyPond: StaffGroup) hier angebracht (Gould hat da auf S. 567 eine schöne Übersicht, die u. a. gemischte Kammermusikensembles enthält).

ingmar

Eben! Ich denke, für die erste und zweite Violine in eine Orchesterpartitur hat es wohl eine gewisse Tradition, in anderen Fällen würde ich persönlich die geschweifte Klammer vermeiden. So konnte einen die gepostete Partitur ohne Instrumentenangabe doch sehr in die Irre führen... was nur wieder verdeutlicht, dass eine idiomatische Notation ein schwieriges Thema ist.