Eigene Tonart definieren (Skordatur)

Begonnen von bspendrin, Samstag, 2. Juni 2018, 17:29

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bspendrin

Guten Tag an alle,

ich möchte barocke Werke in Skordatur setzen (speziell die Rosenkranzsonaten von Biber) und da die ja in Skordatur geschrieben sind müssen vorn bei den "allgemeinen Vorzeichen" andere Kreuze/Bs stehen als es normalerweise üblich ist. Beispielsweise hat die 6. Sonate in c-moll ein notiertes fis (unterster Zwischenraum) und ein Auflösungszeichen beim fis (oberste Zeile) als Vorzeichen. Das ergibt sich, weil ja die Saiten nicht im Üblichen Quintabstand gestimmt sind.
Wie kann man das in Lilypond realisieren?
Falls ich einen entsprechenden Beitrag im Forum übersehen habe tut es mir leid!

Vielen Dank für eure Hilfe!
Benjamin

harm6

Hallo,

ZitatBeispielsweise hat die 6. Sonate in c-moll ein notiertes fis (unterster Zwischenraum) und ein Auflösungszeichen beim fis (oberste Zeile) als Vorzeichen.

Handelt es sich um folgende Sonate?


Was klingt da eigentlich???

Gruß,
  Harm

bspendrin

Ja, ganz genau um die geht es. Gestimmt ist also in as - es - g - d, die beiden ganzen Noten am Anfang sind entsprechend es/g (leere Saiten!), die Achtel g-e-c, die Halbe auch c (falls ich mich nicht verzähle... :D) Biber notiert hier relativ zu den Saiten, d.h. die leeren Saiten bleiben dort wo sie "normalerweise" sind, und die Töne darüber sind immer nur die Finger. Man darf da keinesfalls zu viel drüber nachdenken, sonst bekommt man nen Knoten im Kopf...

harm6

Ein paar Fragen:

Wie willst Du die Noten eingeben?
Klingend und dann durch geignete Funktionen so versetzen, daß es Bibers Original entspricht?
Oder direkt so wie im Original, auch wenn das midi dann unbrauchbar ist?
Wie geht Biber denn damit um, das Töne mal auf anderen Saiten zu spielen sind?
Falls ich mich nicht vertan habe, ergibt <f'_\3 a'^\2> ja einen Einklang bei dieser Skordatur.

Zur KeySignature:

Ich kriege bislang kein Auflösezeichen in eine KeySignature (das wäre ja eigentlich eine Aufgabe von KeyCancellation).
Auch vermute ich, daß es nur für diese eine KeySignature funktioniert, aber folgendes habe ich versucht:


myScale = #`((0 . ,NATURAL) (1 . ,NATURAL) (2 . ,NATURAL)
     (3 . ,FLAT) (4 . ,NATURAL) (5 . ,NATURAL) (6 . ,NATURAL) (10 . ,SHARP))

\relative {
   \override Staff.KeySignature.sharp-positions = #'(1)
   \override Staff.KeySignature.flat-positions = #'(5)
   \override Staff.KeySignature.padding = -1

   \key c \myScale
   s1
}


Gruß,
  Harm

ingmar

#4
Sehr schönes Thema! : - )

   > Wie geht Biber denn damit um, das Töne mal auf anderen Saiten zu spielen sind?
Das war zu Bibers Zeiten nicht üblich. Geh davon aus, dass die Notation immer erwartet, jeden Ton in der tiefsten möglichen Lage zu spielen. So ist auch z. B. Bachs fünfte Cellosuite notiert.

Theoretisch könnte es Ausnahmen geben, nämlich dann, wenn hohe Töne vorkommen, die damit eine hohe Lage der Hand implizieren und bei einem Akkord jedenfalls immer benachbarte Saiten verlangen. Ich würd aber als Arbeitsgrundlage davon ausgehen, dass Biber genau so etwas vermeidet.

Die interessanteste Frage ist, ob man nun Sichtbares oder Klingende notieren sollte. Genau hier stoßen wir auf eine der Grenzen von LilyPond: Es notiert immer Klingendes, nicht Sichtbares. Das ist in 98% der Fälle auch die bessere Lösung. Nur eben nicht bei manchen historischen Notationstypen, bei denen im Einzelfall auch die Wissenschaft uneinig ist, wie es nun klingen soll. Ich denke, hier wäre es wirklich mal interessant, beide Ansätze zu Ende zu denken und sich Lösungen zu überlegen.


Bin sehr gespannt...
Gruß,
--ingmar

EDIT: Letzten Gedanken ergänzt.

bspendrin

Danke für eure Antworten/Hinweise!

Zitat von: harm6 am Sonntag,  3. Juni 2018, 09:32
Ein paar Fragen:

Wie willst Du die Noten eingeben?
Klingend und dann durch geignete Funktionen so versetzen, daß es Bibers Original entspricht?
Oder direkt so wie im Original, auch wenn das midi dann unbrauchbar ist?
Ich möchte es eingeben wie im Original und das midi ist dann halt sinnlos. Es gibt auch klingende Einrichtungen, die verzichten dann aber soweit ich weiß komplett auf die Skordatur. Das führt aber dazu, dass man die Sonaten an einigen Stellen verändern (vereinfachen) muss, weil die dort gespielten Akkorde in Normalstimmung einfach nicht möglich sind.

Zitat von: harm6 am Sonntag,  3. Juni 2018, 09:32
Ich kriege bislang kein Auflösezeichen in eine KeySignature (das wäre ja eigentlich eine Aufgabe von KeyCancellation).
Ich habe mir sagen lassen, dass diese Auflösungszeichen in den Vorzeichen eher "Erinnerungen" sind. So werden Auflösungszeichen ja auch im normalen Notentext manchmal verwendet um darauf hinzuweisen, dass das Vorzeichen aus dem vorangegangenen Takt wirklich nicht mehr gilt.
In sofern ist das Auflösungszeichen in der KeySignature musikalisch gar nicht zwingend nötig, nur der Vollständigkeit halber um halt den Urtext abzubilden.

Viele Grüße
Benjamin

ingmar

#6
Ein Auflösungszeichen dort, wo es 'eigentlich nicht nötig ist', kriegst du auf zwei Arten:

1. Ein Ausrufungszeichen hinter der Note erzwingt die Darstellung des Vorzeichens.
2. Grundsätzlich kann LilyPond solche Erinnerungs-Auflösezeichen selber setzen. Man muss nur angeben, nach welchen Regeln das geschehen soll. Dies ist eigentlich die intelligentere Methode.

Und natürlich lässt sich beides mischen.

Gruß,
--ingmar

harm6

Zitat von: ingmarDie interessanteste Frage ist, ob man nun Sichtbares oder Klingende notieren sollte. Genau hier stoßen wir auf eine der Grenzen von LilyPond: Es notiert immer Klingendes, nicht Sichtbares.

Ich hab' jetzt beides aus ein und derselben Eingabe gemacht.
Das b-chen hab ich noch in der KeySignature belassen, tatsächlich lese ich im Original auch eher eines, denn ein Ausösezeichen. Führt allerdings dazu, daß man immer wieder ein Auflösezeichen löschen muss.
Die Umformung (Eingabe wie Biber -> klingend) erfolgt automatisch, falls das nicht ausreicht, kann man explizite StringNumber verwenden.
Sonata 11 mit den vertauschten Saiten wird wohl nicht anders machbar sein.


\version "2.18.2"

%% c/p fom NR
#(define (naturalize-pitch p)
   (let ((o (ly:pitch-octave p))
         (a (* 4 (ly:pitch-alteration p)))
         ;; alteration, a, in quarter tone steps,
         ;; for historical reasons
         (n (ly:pitch-notename p)))
     (cond
      ((and (> a 1) (or (eqv? n 6) (eqv? n 2)))
       (set! a (- a 2))
       (set! n (+ n 1)))
      ((and (< a -1) (or (eqv? n 0) (eqv? n 3)))
       (set! a (+ a 2))
       (set! n (- n 1))))
     (cond
      ((> a 2) (set! a (- a 4)) (set! n (+ n 1)))
      ((< a -2) (set! a (+ a 4)) (set! n (- n 1))))
     (if (< n 0) (begin (set! o (- o 1)) (set! n (+ n 7))))
     (if (> n 6) (begin (set! o (+ o 1)) (set! n (- n 7))))
     (ly:make-pitch o n (/ a 4))))

violinTuning = <g d' a' e''>

biberTranspose =
#(define-music-function (parser location scordatura music)(ly:music? ly:music?)
"Transposes @var{music}, looking at the pitches provided by @var{scordatura}.
Selection is done by looking at the string-numbers or calculated."
  (let ((scord-pitches (sort (event-chord-pitches scordatura) ly:pitch<?))
        (default-tuning (sort (event-chord-pitches violinTuning) ly:pitch<?)))
    (if (not (eqv? (length scord-pitches) (length default-tuning)))
        (ly:error "Amount of pitches in tuning and scordatura not matching.")
        (music-map
          (lambda (m)
            (if (music-is-of-type? m 'note-event)
                (let* ((pitch (ly:music-property m 'pitch))
                       (arts (ly:music-property m 'articulations))
                       (string-numbers
                         (filter-map
                           (lambda (art)
                             (ly:music-property art 'string-number #f))
                           arts))
                       ;; get string-number or #f
                       (string-number
                         (if (pair? string-numbers)
                             (if (> (length string-numbers) 1)
                                 (begin
                                   (ly:warning "More than one StringNumber
detected, transposing according to the fist, disegarding the other(s)")
                                   (car string-numbers))
                                 (car string-numbers))
                              #f)))

                  (ly:music-set-property! m 'pitch
                    (ly:pitch-transpose
                      pitch
                        (if string-number
                            (let ((select-pitch
                                    (- (length scord-pitches) string-number)))
                              (ly:pitch-diff
                                (list-ref scord-pitches select-pitch)
                                (list-ref default-tuning select-pitch)))
                            (let (;; get the index of the pitch in reversed
                                  ;; `default-tuning', which is the first pitch
                                  ;; being lower than `pitch'
                                  (lsi
                                    (list-index
                                      (lambda (x) (not (ly:pitch<? pitch x)))
                                      (reverse default-tuning))))
                           
                            (ly:pitch-diff
                              (list-ref (reverse scord-pitches) lsi)
                              (list-ref (reverse default-tuning) lsi))))))

                  ;; needed/wanted??
                  ;(ly:music-set-property! m 'pitch
                  ;  (naturalize-pitch (ly:music-property m 'pitch)))
                  m)
                m))
          music))))

mySixthScale = #`((0 . ,NATURAL) (1 . ,NATURAL) (2 . ,NATURAL)
     (3 . ,FLAT) (4 . ,NATURAL) (5 . ,NATURAL) (6 . ,NATURAL) (10 . ,SHARP))

\markup
  \fill-line {
    "Mystery (Rosary) Sonatas (Biber, Heinrich Ignaz Franz von), Nr. 6"
    \null
  }

\score {
  \new Staff \with {  instrumentName = "Actual Scordatura Nr. 6" }
  {
  \omit Stem
    <g d' a' e''>4
    \biberTranspose <aes ees' g' d''>
    <g d' a' e''>4
  }
  \layout { indent = 60 }
}



rawMusic = {
  %\time 2/2
  %% or??
  \override Score.TimeSignature.stencil =
    #(lambda (grob)
      (ly:font-get-glyph (ly:grob-default-font grob) "timesig.C22"))
  \time 2/1
 
  <d' a'>1 r8 a'' \once \omit Accidental f'' d'' d''2
  r8
  %% better use explicit Voices!
  <<
    { a' a' d' d'2 }
    \\
    { \once \omit Accidental f'8 d' b b2 }
  >>
  r8 d'' \once \omit Accidental f'' a'' a''2~
  a''8
   
}

<<
  \new Staff \with { instrumentName = "Biber" }
    {
      \override Staff.KeySignature.sharp-positions = #'(1)
      \override Staff.KeySignature.flat-positions = #'(5)
      \override Staff.KeySignature.padding = -1
      \key c \mySixthScale
      \rawMusic
    }
  \new Staff \with { instrumentName = "klingend" }
    {
      \key c \minor
      \biberTranspose <aes ees' g' d''>
      \rawMusic
    }
>>


Zitat von: bspendrin
Es gibt auch klingende Einrichtungen, die verzichten dann aber soweit ich weiß komplett auf die Skordatur. Das führt aber dazu, dass man die Sonaten an einigen Stellen verändern (vereinfachen) muss, weil die dort gespielten Akkorde in Normalstimmung einfach nicht möglich sind.

Ich halte Bibers Notation übrigens für Unsinn. Wie soll man sich denn anhand des Notentextes eine klangliche Vorstellung erarbeiten?
Geht nicht.
De facto ist es eine reine Griffschrift, aber dafür hätte es ja Tabulatur gegeben.
Bloß weil die Geiger seit Jahrhunderten solch einen Blödsinn mitmachen, muß man das doch nicht noch Jahrhunderte fortsetzen ;)

Als Gitarrist sind mir Skordaturen durchaus geläufig. Solange sie in Noten aufgeschrieben sind, sind sie klingend aufgeschrieben. Falls eine solche NotenGriffSchrift verwendet wird, dann ist aber ein System mit klingender Notation dabei.

Dafür plädiere ich auch für die Geige, Skordatur ja, aber klingend (zumindest zusätzlich).



Gruß,
  Harm

Hier noch der output obigen Codes:



ingmar

ZitatIch halte Bibers Notation übrigens für Unsinn.
Das sind starke Worte! Aber diese Art von Notation ist für Geigeninstrumente jahrhundertelang in Gebrauch gewesen. Anders als Gamben, die in Tabulatur notiert werden, kommt die Geige halt nicht von der Laute her, Geiger kennen eben keine Bünde, und die Tabulatur bezeichnet Schnittpunkte von Bünden mit Saiten. Auch Mozart und Paganini haben noch so notiert, ob uns das nun gefällt oder nicht. Biber hat es halt noch ein wenig weiter getrieben als die meisten anderen, das ist alles.

Sehr vieles in der musikalischen Notation ist aus heutiger Sicht "Unsinn".

--ingmar

harm6

Hallo Ingmar,

ich stimme Dir in fast allem durchaus zu (was Du über die Gambe sagst ist m.E. zu verkürzt, sodaß es schon fast nicht mehr richtig ist. Aber die Gambe ist ja nicht das Thema hier.)

Unsere Notation ist ja in steter Entwicklung, manches ist im Laufe der Jahrhunderte einfach aus der Mode gekommen, manches war auch ein Irrweg, der irgendwann nicht weiter verfolgt wurde bzw in veränderter Form weiter entwickelt worden.
Ich bin durchaus ein Fan davon sich mit alten Notationsformen auszukennen. In meinem Bereich kann ich (fast) alle alten Notationsformen entziffern (bis auf die dt. Lautentabulatur, da weigere ich mich). Doch spielen würde ich immer nach neuen Ausgaben, in Übertragungen in die heutige Notenschrift, die Originalquellen in ihren Notationsformen jedoch als Referenz nutzend.

Das Problem der in Rede stehenden Notation mit solchen Skordaturen, hab ich oben schon umrissen: Man kann sich anhand der Notation keine Vorstellung vom Stück machen. Wenn man es mit Noten hört, wirds nur schlimmer: ich sehe eine Quinte und höre ein Terz...
Ich hab zuerst immer den Gedanken Geiger-xy spielt falsch, das steht doch gar nicht da
...
ähm
...
ach so
...
D.C.

;)


Gruß,
  Harm

Malte

Kleine Anmerkung zur Taktart: Es gibt zwei einfachere Wege als den Stencil zu überschreiben:
  \time 2/2
  \set Score.measureLength = #(ly:make-moment 2/1)


  \time 2/1
  \set Score.timeSignatureFraction = 2/2

ingmar

ZitatHarm: Das Problem der in Rede stehenden Notation mit solchen Skordaturen, hab ich oben schon umrissen: Man kann sich anhand der Notation keine Vorstellung vom Stück machen.
Ja! - Und jetzt stell dir vor, wie überraschend und beglückend es sein muss, solche Notation vom Blatt zu spielen... : - )

--ingmar

harm6

Hallo Ingmar,

Zitat
Und jetzt stell dir vor, wie überraschend und beglückend es sein muss, solche Notation vom Blatt zu spielen... : - )

Das "vom Blatt spielen" ist in der Tat ein überzeugendes Argument, diese NotenGriffSchrift nicht auf den Müll zu werfen.
Jedoch empfinde ich das Hinzufügen eines klingenden Systems nur um so wichtiger. Zumindest in Gesamtpartituren. Platzprobleme mögen dem in der Einzelstimme im Wege stehen.

Gruß,
  Harm